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  • AutorenbildSamarraLeFay

Wasser und Meer

Die Wellen, die sich an seinem Boot brachen, ließen Pieri aufschrecken. Die Mittagssonne hatte sein Gesicht verbrannt. Hatte er geschlafen? Mittags? Bei der Hitze? Auf dem Boot? Kein Wunder brannte seine Kehle. Seine Lippen waren von der salzigen Luft und der Sonne vollkommen ausgetrocknet. Er brauchte dringend Wasser.

Hoffnungsvoll prüfte er seine selbstgebastelte Verdunstungsanlage. Diese bestand aus einer schwarzen, halb mit Meerwasser gefüllten Schüssel, einer kleineren, leeren Schüssel und einer Plastikfolie. Theoretisch müsste das Meerwasser verdunsten und an der Folie kondensieren. Sobald genügend Wasser an der Folie kondensiert war, müsste es in die kleinere Schüssel tropfen. Theoretisch. Nach einem Tag hatte sich ein kleiner Schluck trinkbares Wasser angesammelt.

Gierig trank er den Schluck. Es schmeckte nach wie vor salzig. Er musste schnellstmöglich Trinkwasser finden. Diese Verdunstungsanlage reichte gerade mal aus, um den Tod hinauszuzögern.

Er schaute sich um. Wo wäre wohl am schnellsten Wasser zu finden? Die Häuser, die wie Türme aus dem Meer ragten, verrieten ihm, dass er sich am früheren Marktplatz befinden musste. Und noch immer stieg das Meer weiter an. Früher waren hier am Marktplatz immer etwas los und vor allem gab es reichlich Imbissbuden. Jetzt? Jetzt gab es nur noch Meerwasser. Sollte er es wagen, zu tauchen? Vielleicht fand sich in einer der Imbissbuden ja eine volle Getränkeflasche?

Seit die Stadt geflutet war, war sie verseucht von Haien. Irgendetwas zog sie wie magisch an. Wahrscheinlich die vielen Leichen im Wasser. Viele Stadtbewohner waren von der Flut überrascht worden. Sie stieg innert Minuten auf mehrere Meter an und schloss die Bewohner in ihren Häusern ein. Pieri selber hatte nur überlebt, da seine kleine Wohnung sehr weit oben in einem anonymen Wohnkomplex war. Das Meer stieg noch immer an, aber nur noch sehr langsam.

Sollte er vielleicht in eines der Häuser einbrechen? Und das Boot zurücklassen? Was wäre, wenn jemand im Haus wartete, und die Gunst der Stunde nutzen würde, sein Boot zu klauen. Dann säße er in dem Haus fest.

Er hatte sich all diese Gedanken schon unzählige Male gemacht und er drehte sich immer wieder im Kreis ohne einen Entschluss zu fassen.

Er schaute sich um und fragte sich, wohin er rudern sollte. Jede Richtung war so gut oder so schlecht wie die andere. Daher ließ er sich mit den Wellen treiben. Solange er keinen Plan hatte, wollte er möglichst sparsam mit seiner Kraft umgehen.

„Heiiiiii!“, die Rufe klangen gedämpft durch das Rauschen der Wellen. Erschrocken richtete er sich auf und schaute sich um.

„Hei! Du!“ Auf einem Dach standen etwa zwanzig Männer, Frauen und Kinder, die alle wild durcheinander riefen und winkten. Der Meeresspiegel war noch etwa einen Meter vom Dachrand entfernt. Pieri schätzte, dass in etwa ein, bis zwei Tage das Dach vom Meer verschluckt sein würde. Haifische umkreisten das Dach. Als ob sie ahnten, dass sich dort bald ein Festmahl für sie ergeben würde. Eine Frau, mit kurzen schwarzen Haaren, die wild zu allen Seiten abstanden, schlug mit einem Brett immer wieder auf die näher kommenden Haie ein.

Pieri ruderte näher zum Dach. In einem sicheren Abstand, aber nahe genug, um sich mit den Leuten zu unterhalten, hielt er sich an einer Straßenlaterne fest. Er zeigte auf die Frau mit dem Brett und sagte: „Das lockt die Haie an!“

„Was?“, fragte ein bärtiger Mann. Wohl der, der das sagen hatte, vermutete Pieri.

„Aufs Wasser schlagen lockt Haie an.“

„Woher weißt du das?“

„BBC!“

„Oh ok.“ Er nickte der Frau kurz zu, die das Brett sinken ließ.

Pieri wartete. Er wusste bereits, was sie wollten. Sie wollten hier weg und dazu wollten sie sein Boot. Aber zwanzig Menschen hätte niemals Platz auf seinem Boot. Fünf vielleicht auch sechs oder sieben, je nachdem wie groß und schwer sie waren. Er wollte ihnen helfen, aber er fürchtete sich davor, dass die Absichten der Menschen nicht gut waren. Menschen haben oft ihre Moral auf dem Weg der Verzweiflung verloren.

Der Mann sprach nun das Offensichtliche aus: „Kannst du uns helfen? Kannst du uns ans Festland bringen?

Pieri schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich nicht. Ihr seid zu viele und das Festland ist zu weit entfernt.“

Die Frau nahm ihr Brett wieder in die Hand und wollte auf einen näher kommenden Hai einschlagen, aber eine andere legte beruhigend die Hand auf ihre Schulter.

Pieri konnte sehen, wie es in den Köpfen ratterte. Was würden sie tun. Er war froh, dass Haie im Wasser waren. So würde wohl keine auf die wahnwitzige Idee kommen zu ihm rüber zu schwimmen und das Boot zu kapern.

„Könntest du uns nicht in Gruppen zu einem der umliegenden Gebäude bringen wo wir noch einige Tage sicher vor der Flut und den Haien sind und anschließend in Gruppen ans Festland.“

Pieri zögerte. Ja das würde gehen. Er beäugte einen nach dem anderen der Gruppe. Die Gruppe bestand hauptsächlich aus Kindern. Jungen und Mädchen. Mit großen hilfesuchenden Augen. Er nickte zögernd.

„Wirst du uns also helfen?“

Jetzt musste er sich entscheiden. „Ich kann euch zum nächsten Gebäude bringen, aber das Festland ist zu weit weg. Das schaffe ich nicht. Ich benötige dringend Wasser und Nahrung.“

„Wir haben beides. In diesem Gebäude war ein Supermarkt und wir haben so viel wie möglich gerettet ehe die Flut zu hoch stieg.“ Der Mann und seine Kameraden traten einige Schritte auf die Seite. Hinter ihnen waren Kanister mit Wasser, Dosen und noch vieles mehr.

Pieri lief das Wasser im Mund zusammen. Er musterte die Gruppe erneut und zählte durch. Es waren vier Männer, sechs Frauen und neun Kinder. Ein kleines Mädchen mit langen blonden Haaren trug eine schwarze Katze auf dem Arm und streichelte sie unentwegt. Sie sah aus wie seine kleine Schwester. Wo seine Schwester wohl heute war? Konnte sie sich rechtzeitig vor der Flut retten? Pieris Entscheidung war gefallen.

„Also gut, ich helfe euch. Aber ich brauche Essen und Trinken für eine Woche.“

„Klar, versteht sich von selbst“, antwortete der bärtige Mann freudig.

Pieri ließ die Straßenlaterne los und ruderte zum Dach rüber.

„Zuerst die Frauen und Kinder. Ich rudere euch zu dem Haus dort rüber“ Er zeigte auf ein Haus. „Auf der andere Seite hat es eine Feuertreppe dort könnt ihr ohne Mühe auf das Dach kommen.“

Die Leute nickten. Der bärtige Mann reichte ihm eine Flasche Wasser, welche Pieri gierig leerte.

„Ich bin Marvin“, stellte sich der Bärtige vor.

Pieri nickte. Er bekam eine zweite Flasche und eine Dose Pfirsiche. Während er die Dose öffnete, stellte er sich ebenfalls vor.

Trotz der Freundlichkeit verließ Pieri sein Boot nicht und kehrt niemanden den Rücken zu. Er versuchte, alle so gut wie möglich im Auge zu behalten. Sein Paddel immer griffbereit, um sich einem Angreifer entgegenzustellen.

„Ich schlage vor, ich rudere zuerst einige Frauen und Kinder zum Dach. Der Rest versucht das Material möglichst transportfähig zu machen, damit wir damit nicht zu viel Zeit verlieren.“

Marvin nickte.

Es dauerte fast den ganzen Tag bis sie alles und jeden auf das andere Dach rüber gebracht hatten. Marvin bot Pieri an, dass er auch mal auf dem Dach bleiben könne, um sich auszuruhen. Pieri lehnte dankend ab. Aber zeitweise ließ er einen der anderen Männer rudern und ruhte sich so aus.



„So das wäre geschafft.“ Marvin streckte sich zufrieden. Einige Kinder hatten sich in Schlafsäcke zusammengerollt und schliefen. Schlafen in Schlafsäcken! Pieri beneidete sie ein wenig. Es sah weich und warm aus. Und vor allem trocken. So ganz anders als eine Nacht auf dem Boot.

Pieri nickte. „Wer kommt jetzt bei der ersten überfahrt mit?“

„Wollen wir jetzt gleich los? Willst du nicht eine Nacht hier schlafen?“

Pieri wollte. Er wollte einen Schlafsack, eine Katze, die sich schnurrend auf seinem Bauch zusammen rollte. Er wollte den Sternenhimmel beim einschlafen betrachten, ohne dass das Boot die ganze Zeit schwankte. Aber er schüttelte nur den Kopf. Keiner wusste, wie viel Zeit sie haben würden. „Wir müssen so schnell wie möglich los.“

„Wie lange dauerte es bis zum Festland?“, fragte einer der Männer.

„Wenn wir jetzt los rudern, werde ich am nächsten Morgen zurück sein“, schätzte Pieri, sicher war er sich jedoch nicht.

Marvin wurde bleich, aber nickte grimmig. Er verstand. Es war ein Wettkampf gegen die Zeit. Marvin und eine Frau, die Clara hiess, trugen drei Kinder im Schlafsack ins Boot, ohne sie zu wecken. Als Marvin das blonde Mädchen mit der Katze hochheben wollte, schreckte diese auf und sagte sie würde nicht ohne Molli gehen. Zu den Kindern stieg Clara ins Boot und ein Mann, der sich ihm als Peter vorstellte. Pieri wollte gerade los rudern, als Marvin ebenfalls ins Boot stieg. Das Boot war jetzt überfüllt. Wenn das Boot zu fest schwankte, würde unweigerlich Wasser reinlaufen.

Pieri schaute ihn verwirrt an.

„Was? Glaubst du ich lasse dich einfach mit meinen Leuten davon rudern? Zumal wir nicht wissen was uns am Festland erwartet.“ Marvin zwinkerte ihm zu.

Pieri diskutierte nicht. Er kannte Marvin noch nicht so lange, aber er wusste, diskutieren hätte keinen Sinn gehabt.


Pieri ruderte die halbe Nacht. Seine Passagiere schliefen. Die Katze hatte sich im Arm des Mädchens zusammengerollt.

Inzwischen spürte er die Anstrengung in seinen Armen. Seine Augen fielen immer wieder zu. Er konnte nicht mehr weiter. Er musste schlafen. Vorsichtig ohne die anderen zu wecken, rüttelte er an Marvins Schultern. „Kannst du übernehmen?“

Marvin nickte. Mit steifen Beinen versuchten sie die Plätze zu wechseln, ohne die anderen zu wecken. Als Marvin endlich an Pieris Platz war, fing er an zu rudern. Pieri fiel sofort in einen tiefen Schlaf.


„Pieri!“ Salziges Wasser wurde in sein Gesicht gespritzt.

„Pieri, wach auf!“

Pieri öffnete die Augen.

„Wir sind da, schau! Dort ist das Festland!“ Marvin lächelte strahlend.

Die Frau und der Mann ruderten kräftig.

Festland! Wann hatte er das letzte Mal Festland gesehen? Es war ein mit Bäumen bewachsener Hügel. Weitere Bäume ragten aus dem Wasser, hatten aber bereits all ihre Nadeln verloren.

Sie landeten an. Die Kinder sprangen aus dem Boot. Das Mädchen setzte ihre Katze auf dem Boden.

Staunend sah Pieri sich um. Das war es? Das Festland? Es fühlte sich an, als ob er eine neue Welt betrat. Dabei war es erst einige Wochen seit beginn der endlosen Flut her.

Marvin sah Pieri an.

„Wir müssen zurück!“, flüsterte Marvin.

„Du kommst mit?“, fragte Pieri überrascht.

„Natürlich. Ich kann doch nicht zulassen, dass du alle deine Kräfte beim Rudern verausgabst!“

Pieri nickte.


„Müssen wir links oder rechts?“, fragte Pieri verzweifelt. Der Schweiß tropfte ihm von der Stirn. Doch er ließ sein Paddel nicht los, sondern ruderte unermüdlich weiter.

„Ich glaube rechts...“ Marvin schaute sich unsicher um.

„Du glaubst?“ Pieri war kurz davor zu explodieren. Sie waren bereits Stunden in der Stadt unterwegs.

„Mit dem Wasser sieht alles so anders aus... aber es müsste schon rechts sein.“, Marvins Stimme brach.

Es war bereits später Nachmittag. Sie irrten schon einige Stunden in der Stadt umher und fanden Marvins Freunde einfach nicht mehr.

„Das Wasser steigt wieder schneller!“, stellte Pieri verbissen fest.

„Wir müssen uns beeilen.“

„Ach? Weißt du auch wohin wir uns beeilen müssen?“ Pieris Geduld neigte sich dem Ende zu. Warum bloß hatte er sich darauf eingelassen. Der ganze Stress, die ganze Mühe für zwei, drei Flaschen Wasser. War es das wirklich wert?

Marvin schüttelte verzweifelt den Kopf. „Soll ich rudern?“

„Nein! Wir müssen zum Markt.“

„Zu welchem Markt?“

„Zum Marktplatz, von dort kam ich, als ich euch fand.“

„Du? Du hast uns gefunden? Wenn wir nicht geschrien hätten als ob wir mit Haien baden hättest du uns nie gefunden.“

„Und wenn wir deine Freunde nicht bald finden werden sie mit Haien baden!“, warf Pieri Marvin an den Kopf.

„Du! Du sagtest wir sollten links gehen.“

Pieri hatte genug von Marvin. Jetzt ist es auch noch seine Schuld: „Weißt du was? Du hast recht, lass uns alles zurückrudern und wir gehen rechts. Es sind deine Freunde. Ich wollte nur helfen.“

Marvin ließ die Schultern fallen.

Sie ruderten nicht zurück, sondern irrten weiter in den Straßen umher.


„Es ist zwecklos. Im Dunkeln finden wir sie nie“, Marvins Blick war verbissen. Sie hatten seit dem letzten Streit nicht mehr gesprochen. Die Nacht drückte auf Pieris Gemüt. Er hatte aufgegeben sich nach Marvins Freunden umzusehen. Mechanisch ruderte er immer weiter.

„Es ist zwecklos“, wiederholte Marvin.

„Willst du aufgeben?“

Marvin schüttelte den Kopf.

„Dann hör auf zu jammern und rudere.“

Sie ruderten. Lautlos. Schweigend. Begleitet von den Wellen.


„Hörst du das?“ Marvins Flüstern schreckte Pieri aus seinem Halbschlaf hoch.

„Rufe!“, stellte Pieri erstaunt fest. Hoffnung keimte in ihm auf. Er legte wie Marvin den Kopf in den Nacken und suchte die Dächer ab.

Marvin zeigte auf ein Dach. „Dort.“

Pieri fluchte. Das Wasser war mindestens schon zwei Meter gestiegen. Er hatte viel zu weit oben gesucht. Aber noch schlimmer war, sie hatten zu viel Zeit verloren.

„Los wir müssen uns beeilen.“, trieb Pieri Marvin an. „Wir haben maximal noch zwei Fahrten bis das Dach vom Wasser verschluckt wird.“

Eilig legten sie das Boot an, packten die restlichen Kinder, zwei Frauen und einen alten Mann ins Boot. Sie nahmen nur noch die Vorräte die sie fürs Rudern benötigten mit. Das Boot war nur noch knapp über dem Wasserspiegel. Mehr konnten sie unmöglich transportieren. Marvin und Pieri ruderten so schnell sie nur konnten ans Festland.


Noch vor Einbruch der Dunkelheit kamen sie zurück.

„Sind wir hier richtig?“ Pieri suchte unsicher die Dächer ab.

Heiser antwortete Marvin: „Ja.“

Es war still. Keine Rufe. Die Flut war weiter gestiegen.

Pieri erkannte die Vorräte, die im Meer trieben. Er ließ sie vorbeitreiben.

Sie ruderten alle Gebäude in der Umgebung ab und riefen nach den Zurückgebliebenen. Sie erhielten keine Antwort.

„Marvin? Es ist zwecklos.“ Pieris Mund war trocken. Er sah Tränen in Marvins Augen.

Marvin schüttelte den Kopf. „Vielleicht, wenn wir ein wenig länger suchen, hat das Schicksal erbarmen.“

„Marvin? Wir waren zu langsam.“ Pieri Stimme brach.

„Wir hätten uns nicht verirren dürfen.“

„Ja!“

„Wir waren dumm.“

„Ja.“

„Ich hasse das Meer!“ Marvin ballte seine Hände zu Fäusten.

Pieri stand auf und ging zu Marvin. Er legte einen Arm auf seine Schulter.

„Ich will nicht aufgeben.“


Pieri wartete, bis Marvin eingeschlafen war, ehe er niedergeschlagen das Boot zurückruderte.

„Was wirst du machen, wenn du zurück am Festland bist?“, fragte Marvin mit geschlossenen Augen.

„Was meinst du?“

„Willst du bei uns bleiben?“

Pieri überlegte. Wollte er? Er dachte wieder an das kleine Mädchen, das aussah wie seine Schwester. Er nickte: „Ja!“

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