Diesen Teil der Höhle kannte Slig nicht. Die Wände schimmerten blau und waren spiegelglatt. Er hatte Mühe, sich auf seinen zwei Beinen fortzubewegen. Es war verhältnismässig kühl und die Luft roch frisch. Sehr frisch sogar.
Wo hatten ihn seine zwei Brüder ausgesetzt? Sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, ihm Streiche zu spielen. Heute Morgen, Slig lag noch schlafend in seinem Bett, hatten sie ihn in einen Sack gepackt. Da Slig diese Prozedur bereits gewohnt war, wachte er nur kurz auf und schlief im Sack während des Transports weiter. Er wusste, sie würden ihn irgendwo freilassen, und je weniger er sich wehrte, desto weniger oft spielten seine Brüder ihm diese Streiche.
Als Jüngster des Wurfs konnte sich Slig, bis auf die Streiche, nicht beklagen. Seine Brüder waren mehrheitlich sehr nett. Sie verprügelten ihn nur sehr selten und normalerweise nur so, dass keine Knochen brachen. In anderen Goblinfamilien war es üblich, dass die Position des ersten Essers in Kämpfen ausgetragen wird. Seine Mutter jedoch hielt dies für Schwachsinn. Sie war der Meinung, sich täglich halb zu Tode zu prügeln habe zur Folge, dass sie weniger produktiv wären. Dies hatte unweigerlich zur Folge, dass sie weniger Essen auf den Tisch bringen würden. Slig war überzeugt, dass seine Mutter sehr schlau war. Deshalb hoffte er, dass er irgendwann ein Weibchen finden würde, das so schlau war wie sie. Inzwischen wusste Slig auch, dass er Goblininnen nicht Weibchen nennen durfte.
Bis er ein Weibchen fand, widmete sich Slig seiner Spezialität der Fungurei. Er pflanzte Pilze in den Farmhöhlen an und pflegte diese, bis sie erntereif waren. Manchmal, wenn er abenteuerlustig war, suchte er in den Höhlen nach schmackhafteren wilden Pilzen. Pilze waren die ideale Nahrung für Goblins, davon war Slig überzeugt. Sie konnten Goblins über Jahre ernähren, ohne dass ihre Zähne abfaulten, zumindest meistens, oder die Goblins selber an Kraft verloren. Die meisten Goblins teilten seine Meinung nicht und assen Pilze nur als Notlösung. „Banausen! Es gibt nichts Besseres als einen richtigen Pilz!“, dachte Slig. Dabei lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Wie lange war er schon unterwegs? Inzwischen hatte er Hunger und Durst. Seine Brüder hatten ihm weder eine Trinkflasche noch etwas zu Essen mitgegeben. Dies bedeutete erfahrungsgemäss, dass Slig innerhalb eines Tages wieder zurück sein sollte. Vorsichtig bewegte sich Slig auf dem rutschigen Untergrund weiter und hoffte, dass er auf seiner Heimreise einen schmackhaften wilden Pilz fände. Slig kannte das Höhlensystem um sein Dorf Snoten wie seinen eigenen kleinen Bau. Durch seine Suche nach wilden Pilzen und den Streichen seiner Brüder fand er sich auch ein bis zwei Tagesreisen von Snoten entfernt mühelos zurecht.
Slig rutschte auf einem besonders glatten Stein aus und landete auf seinem Hintern. Ein stechender Schmerz durchzog seinen Rücken und er konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken. "Auf solch einer glatten Oberfläche kann weder ich noch irgendein anderer Goblin aufrecht stehen. Geschweige denn, dass hier Pilze wachsen könnten. Was für ein gefährlicher Gang. Sollte ich besser umkehren?“, Slig bewegte sich ein paar Meter auf allen Vieren fort, bis er wieder das Gefühl hatte, dass der Untergrund genügend rau war, um stehen zu können.
Slig bog um eine Kurve und kniff die Augen zusammen. War das Leuchten am Ende des Gangs eine Fackel? Instinktiv griff Slig nach seinem Dolch am Gurt. Man wusste nie, was in den Höhlen lauerte. Höhlen, insbesondere unerforschte Höhlen wie diese hier, konnten gefährlich sein. Vor allem für einen einzelnen kleinen Goblin. Das Licht bewegte sich nicht. Sligs Gedanken suchten nach einem Grund für dieses Licht: "Vielleicht doch keine Fackel? Ein Lagerfeuer? Ohne Rauch?" Leise schleichend bewegte sich Slig auf das Licht zu.
Plötzlich hörte Slig ein Knacken und spürte, wie unter seinen Füssen etwas brach. Alarmiert griff Slig seinen Dolch fester und schaute hinunter. „Ein Ast?“, dachte er entsetzt. „Wie zum Smor kommt ein Ast hier hinunter? Ist das eine Falle? Ein Alarmsystem?“, Slig versuchte möglichst flach zu atmen. Er hörte nichts, ausser sich selbst.
Nach einer gefühlten Ewigkeit machte Slig wieder einen Schritt weiter nach vorne. Er hob den Fuss nur so weit vom Boden, dass es kein scharrendes Geräusch geben konnte. Slig presste seinen kleinen dürren Körper fest an die kühle Wand. Dadurch konnte er zwar nicht sehen, was am Ende des Gangs auf ihn wartete, aber gleichzeitig konnte ihn auch niemand kommen sehen.
Vorsichtig und so lautlos wie nur möglich schob er sich zwei weitere Schritte nach vorne. Noch drei Schritte.
Trotz der kühlen Wand rann ihm Schweiss den Rücken hinunter. „Verdammter Smor! Man kann mich bestimmt über fünf Wegkreuze hinweg riechen. Wenn der Geruch mich verrät, kann ich noch so leise sein." Noch zwei Schritte und er wäre am Ende des Gangs angekommen. Slig fragte sich, ob er nicht besser umkehren sollte. Vielleicht wartete ein Unhold nur darauf, dass Slig kommt. Aber warum würde er dann mit einem Licht seine Anwesenheit verraten? Vielleicht wartete kein Unhold auf ihn und das Licht gehörte zu einem seltenen Glühpilz. Einen solchen Pilz zu finden wäre ein echter Glücksfall. Diese konnten Fackeln in Gängen ersetzten, aber die Zucht war sehr schwer. Dass das Licht bis jetzt kein Anzeichen von Flackern zeigte, sprach eher für einen Glühpilz als für eine Fackel oder ein Lagerfeuer.
Slig schob sich noch einen weiteren Schritt vor. Er reckte seinen Kopf und erhaschte einen Blick um die Ecke.
Helles Licht blendete ihn. Schützend hielt er sich die Hand vor die Augen und ächzte stöhnend auf. Mit der anderen Hand hielt er den Dolch fest umklammert, bereit, auf alles einzustechen, was sich ihm näherte. Als sich seine Augen an das Licht gewöhnten, sah er vor sich einen riesigen Baum. So hoch wie fünfzig Goblins übereinander.
Der Baum war so beeindruckend, dass Slig beinahe vergass, nach Feinden Ausschau zu halten. Er spitzte die Ohren, aber hörte nur das Rascheln der Blätter im Wind. „Wind? Hier unten?“, wunderte sich Slig. Sein Blick erkundete die Höhle. An der Höhlendecke sah Slig ein Loch, durch das Tageslicht kam. „Tageslicht!“, Slig war entsetzt. Alarmiert hielt Slig sich die Hand vor die Augen und stellte erleichtert fest, dass er seine Hand noch sehen konnte. Er stiess einen leisen Seufzer der Erleichterung aus und erinnerte sich daran, dass er im Glauben aufwuchs, dass, sollte er jemals Tageslicht sehen, würde er erblinden. „Nichts weiter als Schauergeschichten für kleine Goblinwelpen“, amüsierte sich Slig, „Bestimmt, damit kleine Goblins nicht zu weit von Zuhause davonliefen.“ Aus Erzählungen und Bilder kannte er die Oberwelt und wusste rudimentär wie Menschen, Elfen, Häuser, Blumen, Bäume, Wolken und solche Dinge aussehen. Aber mit eigenen Augen hat er diese Dinge noch nie gesehen. Wolken verirrten sich selten unter die Erde.
Wenn Slig Tageslicht sah, bedeutet dies, dass er praktisch an der Oberfläche war. Langsam kamen Sorgen in Slig auf: „Wie weit bin ich von Snoten entfernt?“
„Bin ich wirklich alleine in dieser Höhle?“, er blickte sich nochmals um. In der Höhle schien ausser ihm niemand zu sein. Dennoch war Slig immer noch vorsichtig. Er bewegte sich langsam auf den Baum zu. Der Boden unter ihm wurde immer weicher und feuchter. Slig stand auf saftig weichem Moos. Moos kannte er zwar, aber dieses Moos war besonders weich. „Wie angenehm. So musste es sich anfühlen, wenn man Schuhe besitzt.“, Slig erkundete zuerst den Boden der Höhle, aber bis auf das weiche Moos fand er nichts Aufregendes. Kein einziger Pilz wuchs im Moos, obwohl Slig überzeugt war, dass dies eine perfekte Pilzumgebung sein musste. Es war warm, feucht und es gab genügend Luft. Manchmal kam es in den Höhlen dazu, dass Luft fehlte. Woher das kam, wusste Slig nicht, vielleicht war es der Atem eines schlafenden Dämons. In solche Höhlen sollten Goblins sich nicht zu lange aufhalten.
Er brauchte zwanzig Schritte, um den Baumstamm zu umrunden. Wie gross so ein Baum doch war, staunte Slig. Er kratzte sich am Kopf und betrachtete den ersten Baum, den er je in seinem Leben gesehen hat, eine ganze Weile. Er zupfte ein Blatt von einem Ast und befühlte es. Es war glatt, länglich und hatte am Ende Zacken. Kleine feine Adern zierten das Blatt. Er roch an dem Blatt und schloss die Augen. Noch nie hatte er so was gerochen. Es roch… Slig kratze sich erneut am Kopf, bis ihm das richtige Wort einfiel: „Grün!"
Zwischen den Blättern hingen immer wieder gelbrote Kugeln. Slig fragte sich: "Sind das Baumsporen?" Er pustete eine dieser Kugeln an in der Hoffnung die Spore würde sich wie bei Pilzen durch den Raum verteilen. Aber sie blieb unbeweglich hängen. Vorsichtig befühlte Slig die Baumspore. Sie war weich und besass feine Härchen. Er zupfte eine vom Ast und schnupperte daran. Wenn es keine Spore war, was war es dann? Unschlüssig schaute er von der Spore zum Dolch und stach dann die Spitze einen Nagel tief hinein. Saft rann aus dem Loch und über Sligs Hand. Ein süsslicher Geruch umhüllte den Goblin. „Sporensaft?“, dachte Slig verwirrt. Normalerweise waren Sporen trocken, damit sie mit der Luft davongetragen werden konnten. Aber wer weiss schon, wie Bäume ihre Sporen verteilten.
Slig träufelte den Saft auf den Boden, vielleicht wuchsen dadurch weitere Bäume.
Dann versuchte er, die Spore in zwei Hälften zu schneiden. Die Mitte war jedoch so hart, dass er diese mit seinem Messer nicht durchschneiden konnte. Daher schnitt er um diesen harten Kern herum. Erfolgreich befreite er eine Sporenhälfte vom Knorpel in der Mitte. Ratlos betrachtete er den Sporen: „Kann ich das essen? Ist es giftig? Bauchschmerzen-giftig wäre ja noch okay, aber vielleicht ist es tot-umfall-giftig.“ Sporende Pilze waren normalerweise nicht mehr geniessbar, manche Pilze waren sogar sehr giftig sobald sie Sporen bildeten. Üblicherweise erntete man Pilze vor der Sporenbildung. Slig setzte sich hin und lehnte gegen den Baumstamm und starte die Sporenhälften in seinen Händen weiter ratlos an. Der Hunger in seinem Bauch tobte so sehr wie seine Angst. Er konnte sich einfach nicht überwinden, in die Spore zu beissen. Wenn er hier tot umfallen würde, würde ihn niemals je ein Goblin finden. Jedes Mal wenn er dachte, dass er jetzt einen kleinen Biss nehmen wollte, kniff er im letzten Moment. Schlussendlich dachte er daran, umzukehren und die Baumhöhlen hinter sich zu lassen. Wenn er die Sporen nicht essen würde, verschwendete er hier nur seine Zeit. Unfähig sich zu entscheiden, dämmerte er irgendwann in einen unruhigen Schlaf weg.
Er erwachte, als er spürte, wie sich etwas in seiner Hand bewegte. Die Sporenhälfte in seiner Hand roch jetzt nicht mehr süss, sondern ein wenig säuerlich. Es war dunkel geworden. "Vielleicht ist das Loch geschlossen?", Slig schaute nach oben und sah, dass das Loch noch offen war, aber kein Tageslicht mehr hindurch drang. Stattdessen drang weisses angenehmes Mondlicht hinein, das Slig weniger in den Augen schmerzte. Er sah durch das Loch, dass die Dunkelheit von kleinen weissen Punkten geziert wurde. "Das müssen Sterne sein.“, staunte Slig. Gebannt von der Schönheit starte er den Himmel an. Fast vergass er dabei seinen Hunger, seinen Durst und den Grund, der ihn weckte. Er riess sich von dem Anblick los und schaute in seine Hand. Die beiden Sporenhälften wimmelten von Würmern. Slig legte dieSporenhälften beruhigt zur Seite. „Die Sporen sind essbar“, dachte Slig erfreut. Er nahm sich vor, später ein paar Sporen zu essen, aber jetzt musste er weiter die Sterne anschauen. Es war mit Abstand das Schönste, was er jemals gesehen hatte. Er war so gebannt vom Sternenhimmel, dass er gar nicht mitbekam, dass alle Sporen im Baum nun plötzlich verfault und wurmzerfressen waren. Slig starrte stundenlang den Himmel an, bis ihm wieder die Augen zufielen und er in einen tiefen zufriedenen Schlaf sank.
Am nächsten Morgen wurde er von einem Sonnenstrahl geweckt. „Wie ärgerlich! Wie können oberirdische Wesen nur damit leben, dass es irgendwann einfach hell wurde?“, verschlafen kratze Slig sich am Kopf, bevor er sich den Baum wieder anschaute.
Dann erinnerte er sich an die letzte Nacht und an die Würmer, welche die Sporen assen. "Die Sporen sind also essbar.", er nahm seine beiden Sporenhälften in die Hand, „Sonderbar, habe ich das nur geträumt?“ Ich dachte, ich hätte Würmer an den Sporenhälften gesehen? Sind sie nun doch nicht essbar?“
Slig erinnerte sich an den wundervollen Sternenhimmel und wusste, so etwas hätte er nicht träumen können, da er bisher noch nie so etwas gesehen hatte. Und jeder Goblin wusste, dass man nur von Dingen träumte, die man schon mal gesehen hatte.
Vielleicht war es der Hunger aber Slig kam nun endgültig zum Schluss, dass man die Sporen essen konnte. Beherzt und halb verhungert griff er sich eine Spore und biss hinein. Seine Geschmacksnerven explodierten. Ein süsser leicht säuerlicher Geschmack erfüllte seinen Mund. Die Spore war so saftig, dass zusätzlich sein Durst gestillt wurde, dabei frohlockte er: "Das ist mit Abstand das Beste, was ich jemals zu mir genommen habe." Der zweite Biss war so zügellos, dass er sich beinahe einen Zahn am inneren Kern ausgebissen hätte. Gierig stopfte er sich die gesamte Spore in den Mund und schabte den weichen Teil mit den hinteren Zähnen vom harten Kern, während er weitere Sporen pflückte. Als er mit dem Essen fertig war, spuckte er den harten Teil achtlos aus und stopfte sich eine weitere Spore in den Mund. Slig ass so viel von diesen Sporen, bis sein Bauch rund war und er keine weitere Spore mehr in sich reinstopfen konnte. Dann nahm er den Beutel, aus dem er sich einen Tag zuvor befreit hatte, und füllte diesen mit so vielen Sporen, wie er tragen konnte. Mit gefülltem Bauch und Beutel machte sich Slig los, seinen Heimweg zu suchen.
Er ging zurück zu dem Gang mit dem spiegelglatten Boden. Vorsorglich hielt er sich an der Wand fest, um den rutschigen Untergrund zu überwinden. Am Ende des Gangs kam er zu einer Wegkreuze mit zwei weiteren Gängen. Ursprünglich kam er vom linken Gang. Slig schloss die Augen und dachte nach: "Welchen Gang soll ich nehmen?"
Einem Instinkt folgend nahm er den Gang rechts. Slig lief einige Stunden, bis ihn erneut der Hunger plagte. Obwohl die Sporen überaus köstlich waren, schienen sie den Hunger nicht lange fernzuhalten. Er wollte die Sporen im Sack jedoch nicht anrühren, da er diese mit seiner Mutter teilen wollte. Inzwischen glaubte er, zu wissen, wo er sich befand. Falls er sich nicht irrte, war er eine ganze Tagesreise von seinem Zuhause entfernt. Nach zwei weiteren Stunden überkam ihn der Hunger: „Vielleicht esse ich doch noch eine Spore. Wenn ich vorher verhungere, kriegt niemand mehr eine Speisespore ab.“ Speisesporen, ja das war der richtige Name für diese Sporen. So würde er sie zu Hause präsentieren und versuchen, sie zu züchten. Beherzt griff er in seinen Beutel, aber zu seiner masslosen Enttäuschung fand er nur noch die harten inneren Teile der Sporen. Slig schaute in den Beutel. Alle Speisesporenteile waren weg und nur noch das Innere der Spore waren im Beutel. Er untersuchte den Sack genauer und auch den Gang hinter sich. Hatte er Würmer mit gepflückt, die während dem Laufen alles aufgegessen hatten? Doch er fand weder im Sack noch im Gang einen einzigen Wurm. Slig dachte solange nach, bis sein Kopf schmerzte, aber er konnte sich keinen Reim daraus machen. Enttäuscht leerte er den Beutel und lief weiter. Er prägte sich den Weg ein. Er wusste er würde bald wieder zu diesem Baum zurückkehren. Vielleicht verhinderten die Sterne dass Slig die Speisensporen mitnehmen konnte, damit er sie bald wieder besuchen kam.
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