„Angriff!“
Stryks riss die Augen auf. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
Schon wieder einer! Der Letzte brannte ihm noch in den Muskeln.
Mit einem langen Blick sog er das Bild seiner Frau, wie sie ihren gemeinsamen Sohn wiegte, in sich auf.
Er hatte gehofft, dass nach dem letzten Angriff ihre Höhle einige Zeit unbehelligt bleiben würde. Er sammelte seine Kleider in der Schlafnische, eine in den Fels gehauene Delle, und huschte die Leiter runter. Unten angekommen warf er sich die Kleider, die mehr Lumpen waren, schnell über. Ein flüchtiger Blick nach oben verriet ihm, dass seine Frau immer noch ihren Sohn haltend, ebenfalls daran war, aus ihrer Nische zu klettern. Seine Frau lächelte ihn aufmunternd an. Sie war so viel mutiger und geschickter als er. Zudem war sie zum Glück praktisch veranlagt. So hatten sie nun genügend Zeit, sich mit den anderen Wehrlosen zu verbarrikadieren.
Wehrlos! HA! Ein Wutausbruch seiner Frau könnte sogar einem Drachen das Fürchten lehren.
Ohne nochmals zurückzublicken, rannte er zur Waffenkammer.
Sein Kamerad Rusk drückte ihm Speer und Schild in die Hände.
„Ich bin Bogenschütze, das weißt du doch.“ Stryks wollte nicht in den Nahkampf. Dort schwand seine Überlebenschance.
„Keine Zeit! Nimm die Waffe oder stürz dich waffenlos in den Kampf.“ Die anderen Kämpfer drückten ihn zur Seite, begierig darauf, eine Waffe zu ergattern.
Speer und Schild! Nahkampf! Die Spinnengrube wäre die gnädigere Art zu sterben gewesen. Er hatte so viele Pläne für sein Leben. Bier trinken. Seinen Sohn aufwachsen sehen. Kräuter rauchen. Seinem Sohn das Wegelagern und Trinken beibringen. Furchterregende Geschichten über Oberländer erzählen. Mehr Bier trinken. Dazu musste er überleben.
Hoffentlich hatten sie Glück und es war wieder eine so unfähige Truppe wie am Tag zuvor. Ein kurzer Kampf. Kaum ein Goblin ist beim Angriff gestorben. Ein echter Rekord! Leider hatte die Truppe dabei aber zwei ihrer großen Zuchtspinnen, die normalerweise den Eingang bewachten, nieder geschlachtet.
Stryks bezog Stellung in einer der Nischen, die den Höhleneingang säumten. Verzweifelt versuchte er, das Klappern seiner Zähne zu unterdrücken. Daran sollte sein Hinterhalt nicht scheitern.
Von draußen dröhnte eine tiefe Stimme: „Goblins! Wir sind eure neuen Herrscher!“
Stryks spähte von seiner Nische hervor und sah dort vier Gestalten. Eine riesig, eine winzig, eine anmutig und eine breit wie ein Ork. Die Truppe vom Vorabend. Stryks zog seinen Schnodder die Nase hoch. Sie hatten diese Unholde schon einmal besiegt, sie würden es bestimmt wieder schaffen.
Der Ork stolzierte, über beide Ohren grinsend und seine Axt schwingend, voraus. Mit dieser Axt hatte er seinen Freund Melk in einem Schlag halbiert. Stryks umklammerte seinen Speer und machte sich ganz klein. Ihm wollte er sich unter keinen Umständen entgegenstellen. Er war nicht so lebensmüde.
Hinter dem Ork stand der graue Goliath, mindestens ein Bierfass größer als der Ork und genauso erbarmungslos. Jedoch war er über Nacht noch hässlicher geworden. Lange Tentakel wuchsen ihm aus seinem Gesicht.
Ein widerlich süßer Gestank drang in Stryks Versteck. Verwesung! War das eine Krankheit? Hoffentlich war diese nicht ansteckend.
Beim Gedanken daran, dass ihm Tentakel aus den Wangen wuchsen, schüttelte es Stryks.
Einer der Auswüchse fiel zu Boden. Erst da erkannte Stryks, dass der Goliath keine Krankheit hatte. Dieser dämliche Riese hatte sich einen der toten Spinnenkörper über den Kopf gestülpt. Stryks musste vor Erleichterung hicksen. Erschrocken hielt er sich die Hand vor dem Mund. Sie hatten bemerkt, dass ein Spinnenkörper fehlte und befürchtet dass einer der Kämpfer nekromantische Fähigkeiten hatte. Was sonst hätte man mit dem Kadaver anstellen sollen? Essen konnte man die Spinnen leider nicht. Das Fleisch war verseucht mit ihrem Gift.
Einen Spinnenkadaver über den Kopf zu ziehen, war da die wesentlich harmlosere Erklärung. Aber warum um Maglubiyts Willen tat man sowas? Sogar ihm war bewusst, dass dies eine dämliche Idee war und er war bestimmt nicht der schlauste Goblin unter der Erde. Man sah nichts! Es stank! Und mit etwas Pech konnte man sich vergiften.
Der Goliath schritt mit geschwellter Brust Richtung Höhleneingang.
Stryks würgte. Dieser Gestank war kaum zu ertragen. Hatte dieser Koloss keine Nase?
Vor dem Goliath tänzelte der Kobold. Er sah harmlos aus, aber der Schein trog. Der Kleine war so schnell, dass er am Vorabend mehrmals Stryks Pfeilen ausgewichen war. Der Kobold brüllte: „Hört, hört, euer Gott ist da!“
Stryks schnaubte durch die Nase, dabei bildete sich eine Blase aus Rotz. Kein Goblin war doof genug um auf so etwas reinzufallen.
Hinter dem Goliath stolzierte die Elfe. Sie hatte sich beim letzten Kampf in einen furchterregenden Bär verwandelt. Ihr wollte Stryks nicht zu nahe kommen. Eigentlich wollte er niemandem zu nahe kommen. Warum hatte er denn nur einen Speer bekommen?
Mit ungewöhnlich kräftiger Stimme plärrte der Kobold erneut: „Kniet nieder vor eurem neuen Gott!“ Dabei schwang der Goliath seinen Kopf inbrünstig hin und her, so dass die Beine der Spinne flatterten.
Stryks sah, wie Raint seinen Bogen zur Seite warf und nieder kniete. Keine schlechte Idee. Vielleicht sollte er sich auch hinknien. Sie würden sonst bestimmt alle Goblins abschlachten.
„Niemals!“, quiekte einer seiner Kameraden von hinten.
Eilig sammelte Raint seinen Bogen wieder ein und machte sich kampfbereit.
Stryks sah, wie sich ein Trupp Bogenschützen neben Raint aufstellte, die Bogen spannte und auf die Abenteurer schoss.
Daneben! Anfänger! Er hätte getroffen!
Weitere Goblins rannten an ihm vorbei und stürzten sich todesmutig auf die Eindringlinge. Stahl klirrte auf Stahl.
Stryks kniff die Augen zusammen und machte sich in seiner Nische so klein wie möglich. Er schloss immer im Kampf die Augen. Das Stampfen des Goliaths ließ die Erde erbeben. Stryks presste sich tiefer in den Schutz seiner Nische. Wenn er doch nur im Felsen verschwinden konnte.
Die Abenteurer standen mitten in der Höhle. Kaum eine Armlänge von ihm entfernt war die Elfe. Einem Tanz gleichend zog sie einen Pfeil aus ihrem Köcher am Rücken, legte ihn in die Sehne, spannte den Bogen und schoss. Dann ging ihr Tanz wieder von vorne los. Stryks könnte ihr seinen Speer in die Seite rammen, so nahe war sie. Er sammelte seinen Mut. Nur ein kräftiger Stoß und dann schleunigst das Weite suchen.. Das sollte er schaffen.
Von Weitem hörte er das Bellen eines Worgs. Stryks jubelte. Diesem würden die Abenteurer nicht gewachsen sein!
Der Ork schubste einen Goblin beiseite und konzentrierte sich auf den neuen Angreifer.
Die Elfe neben Stryks japste auf: „Sergor!“ Zu leise, als dass jemand außer Stryks das gehört hätte.
Da war er. Sein Moment. Stryks rannte los. Er hob seine Waffe. Mit voller Kraft stieß er die Speerspitze in die Wade der Elfe. Ihr entfuhr ein Keuchen. Sie schaute ihn mit großen hellblauen Augen an. Stryks holte mit dem Speer erneut aus. Ein zweiter Stoß direkt in den Bauch. Tot! Toooot! Die Elfe war tot. Das konnte niemand überleben.
Die Augen der Elfe wurden gelb. Ihr Körper war innert Sekunden von einem struppigen braunen Fell überzogen.
Der Bär, der kurz vorher die totgeglaubte Elfe gewesen war, knurrte Stryks an. Vor Schreck ließ er seinen Speer fallen und warf dem Bär das Schild in die Schnauze.
Der Ork schrie den Worg an: „Komm her, du Welpe!“ Seine Axt hoch erhoben stellte er sich der Herausforderung. Der Goliath warf den Spinnenkadaver auf einen Goblin, der sich würgend zum Höhlenausgang rettete. Der Kobold flitzte mit seinem Dolch von einem zu nächsten Goblin und versuchte wie eine feige Ratte ihnen die Kniekehlen aufzuschlitzen.
Der Worg überwand den Ork mit einer Finte und warf den Goliath von hinten zu Boden. Mit einem weiteren Satz stellte er sich dem Braunbär entgegen.
Zu Stryks Überraschung blieb der Goliath regungslos am Boden liegen. Groß und gebrechlich. Einer weniger!
„Nicht schon wieder!”, knurrte der Kobold und eilte zum Riesen.
Der Ork stieß seine Axt dem Worg in die Flanke. Sein Opfer jaulte auf und ließ vom Braunbären ab. Der Worg setzte zu einem Sprung an. Von links traf ihn die Pranke des Bären. In einem hohen Bogen flog er gegen die Felswand. Eine halbe Schrittlänge weiter nach links und Stryks wäre unter ihm begraben worden.
Ein Pfeilregen flog auf die Eindringlinge nieder. Weitere Goblins kamen zur Verstärkung.
„Rückzug!“, schrie der Ork.
Inzwischen stand der Goliath wieder und schwang unerschrocken seine Axt. Nur widerwillig kam er der Aufforderung seines Anführers nach, aber nicht ohne vorher den Spinnenkadaver wieder eingesammelt zu haben.
Stryks schnaufte erleichtert aus. Sie hatten überlebt. Der Gestank war weg. Er hatte überlebt! Hoffentlich kamen die Abenteurer nicht noch ein drittes Mal.
Danke an Petra Baumann für diese wunderschöne Illustration. Mehr von Petra findest du unter www.petrabaumann.ch
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