Jules hörte Doktor Schmidts gedämpfte Stimme durch die Tür: „Frau d’Arndo! Danke Ihnen, dass Sie gekommen sind. Entschuldigen Sie bitte die unerfreulichen Umstände.“
Jennys Antwort konnte Jules nicht hören, obwohl sie ihre Ohren spitzte.
Die Tür wurde geöffnet. Jules wartete kauernd in der Ecke des Sofas und umklammerte ein Kissen. Den Kopf und die Schultern liess sie hängen.
„Bitte kommen Sie ins Büro.“ Doktor Schmidt führte Jenny hinein.
Jules spähte kurz zu Jenny auf. Diese grinste sie triumphierend an. Jules lief es eiskalt den Rücken hinunter. Die Angst nagte an ihren Gedanken. Konnte Jenny sie hier und jetzt töten? Wahrscheinlich nicht, sonst hätte sie es längst getan. Es sei denn, sie mochte dieses sadistische Katz-und-Maus-Spiel. Das konnte durchaus sein. Was, wenn Jenny Gedanken lesen konnte?
Jules Zweifel wurden durch Doktor Schmidts Aufforderung unterbrochen: „Bitte setzen Sie sich.“
Jenny setzte sich auf den Sessel gegenüber von Jules. Obwohl sie Jennys Blick deutlich auf sich ruhen spürte, vermied sie es, noch einmal hoch zu sehen.
„Wie ich Ihnen am Telefon bereits erklärt habe, fanden wir neue Indizien, die uns befürchten lassen, dass Jenny, entgegen ihrem Versprechen, dennoch mit Angehörigen von Ihnen Kontakt aufgenommen hat!“
Jenny nickte wissend: „Das überrascht mich nicht. Ich habe diese Lüge von Anfang an durchschaut. Wissen Sie zu wem sie Kontakt aufgenommen hat?“
„Ich glaube, zu Ihrem Ex-Freund David.“ Doktor Schmidt machte eine kurze Pause. „Es scheint so als ob er ihrer Psychose erlag. Wie wir ihrem Nachrichtenverlauf entnommen haben, glaubt er, Sie seien Jenny und Jenny Sie.“
Jennys Augen weiteten sich vor Überraschung. „Ist das so?“ Dann senkte sie den Kopf und tupfte sich mit ihrem Ärmel die Augenwinkeln ab.
Jules hätte am liebsten geschnaubt. Als ob jemand diesem Theater Glauben schenken würde. Jenny und weinen.
Doktor Schmidt beugte sich verständnisvoll vor und meinte sanftmütig: „Ich verstehe, dass dies sehr schwer für Sie sein muss.“
Jenny nickte: „David… Ich habe David geliebt. Er hat mit mir Schluss gemacht. Er hatte mir gesagt, dass ich ihn anlügen würde. Das muss sie gewesen sein.“ Anklagend zeigte sie auf Jules. „Sie muss ihm diese Lüge in den Kopf gesetzt haben. Sie hat ihn mir weggenommen. Sie zerstört mein Leben. Bitte, Sie müssen sie wegsperren.“ Jenny holte theatralisch tief Luft ehe sie mit Nachdruck hinzufügte: „Dieses Mal für immer.“
„Ich verstehe ihre Emotionen. Glauben Sie mir bitte, dass Jenny nicht noch einmal die Möglichkeit haben wird, mit ihrem Ex oder anderen Ihrer Angehörigen Kontakt aufzunehmen“, beteuerte Doktor Schmidt.
Jennys Mundwinkel zuckten. Jules war überzeugt, dass sie innerlich tanzte und frohlockte.
Doktor Schmidt nahm den Teekrug in die Hand und fragte: „Wollen Sie einen Kaffee?“
Jenny nickte und beobachtete aufmerksam wie Doktor Schmidt zuerst ihr und danach sich selber Kaffee eingoss. Jules Tasse blieb leer.
Jenny nahm demonstrativ den Kaffee. Sie grinste Jules über den Rand der Tasse hinweg höhnisch an, ehe sie einen grossen Schluck nahm.
„Wir werden jedenfalls den Internetzugang nur noch unter Aufsicht gewähren und das Handy ganz wegnehmen. Ausgehende Briefe werden kontrolliert…“
Doktor Schmidt rasselte eine Reihe von Sanktionen hinunter. Jennys Augenlider wurden schwerer und schwerer. Sie schloss einen Moment die Augen, öffnete diese wieder und starrte Jules wütend an. Hatte sie die Falle durchschaut? Noch ehe Jules sich weitere Gedanken machen konnte, sackte Jenny im Sessel zusammen.
Jules und Doktor Schmidt warteten einige Atemzüge bevor Doktor Schmidt aufstand. Prüfend legte sie die Finger auf Jennys Hals. „Der Puls ist stabil.“ Sie zückte eine Spritze.
Jules beobachte gebannt, wie Doktor Schmidt das Psychopharmaka in Jenny Oberarm spritzte. Inständig hoffte sie, dass dieses Mittel wie bei ihr selber verhindern würde, dass sich Jenny aktiv auf Reisen begab, aber trotzdem nicht verhinderte, dass sie ihre Körper zurück tauschten.
Nach der Injektion verstaute Doktor Schmidt die Spritze in ihrer Schreibtischschublade. Dann nahm sie selber einen grossen Schluck Kaffee. „Du hast etwa eine Stunde Zeit.“
Bevor Jules sich in Trance versetzte erinnerte sie sich an das Gespräch mit Doktor Schmidt vor ein paar Tagen, direkt nach Jennys letzten Besuch:
Doktor Schmidts Stimme zitterte: „Diese Frau, die hier war, sie war Jenny?“
Jules sah in Doktor Schmidts Augen die Hoffnung, Jules würde diese Frage verneinen. Die starke und rationale Frau war an der Grenze des Glaubhaften angekommen.
Jules nickte. „Wie konnten Sie das wissen?“
„Ich kenne Jenny seit Jahren. Ich habe sie behandelt und sie studiert. Ich kenne ihren Gang, ihre Gestik, die sie macht wenn sie aufgeregt ist. Ich weiss wie sie die Wörter betont oder welche Wörter sie überhaupt wählt.“ Sie raspelte die Basis ihrer logischen Schlussfolgerungen herunter, aber als ihr die Konsequenzen dessen bewusst wurden, wirkte sie für Jules ungewohnt klein und verloren. Beinahe lautlos hauchte sie: „Was ich nicht verstehe, wie?“
Jules erzählte ihr alles. Sie hatte keinen Zweifel, dass sie ihr glauben würde. Doktor Schmidt hörte aufmerksam zu, ohne sie nur einmal zu unterbrechen.
„Ich danke dir für dein Vertrauen.“ Doktor Schmidt stand auf und ging zu ihrem Aktenschrank. Sie nahm Jennys Akte heraus.
„Was machen Sie?“
„Vielleicht finde ich einen Vorwand, dich zu entlassen.
Jules war geschockt und erfreut zu gleich. „Können Sie das?“
„Es gibt einige Sachen, die ich in die Wege leiten müsste und du müsstest mindestens noch einen weiteren Psychiater konsultieren, aber ich denke, ja, wir können es bewerkstelligen.“
Jules Gedanken rasten. Sie könnte frei sein. Sie könnte zu David gehen. David! Aber sie konnte nicht zu ihrer Mutter gehen. Sie konnte nicht zurück in ihren alten Beruf. Denn Jenny hatte keine Ausbildung. Sie würde ihr Leben nicht zurück bekommen. Sie würde lügen müssen. Sie würde Davids Eltern anlügen müssen, und so tun, als ob sie diese zum ersten Mal sah. Und Jenny? Sie würde immer eine Gefahr für sie sein.
„Ich will nicht, dass Sie mich entlassen!“
Doktor Schmidt sah sie über die Akte hinweg erstaunt an. „Was? Wieso nicht?“
„Ich will mein Leben zurück. Und wenn ich es irgendwann zurückbekommen habe, will ich Jenny hier drin wissen und mich nicht mehr um sie sorgen müssen.“
Doktor Schmidt runzelte die Stirn. „Wir sind kein Gefängnis.“
„Trotzdem müssen wir einen Weg finden, dass sie nicht noch einen Körper stiehlt.“
Doktor Schmidt nickte bedächtig: „Ich verstehe dein Anliegen. Aber was kann ich da machen? Ich höre das erste Mal von diesen Dingen.“
„Die Psychopharmaka!“
„Was ist mit diesen?“
„In starken Dosen haben sie bei mir die Astralreisen verhindert. Ich war erst dazu fähig, als wir die Mittel reduziert haben.“
Doktor Schmidt lächelte. „Ich glaube, du hast einen Plan, oder?“
Jules nickte verschwörerisch.
Ja, Jules hatte einen Plan und sie würde ihn jetzt endgültig in die Tat umsetzen. Jenny würde mindestens eine Stunde schlafen. Nur wenn beide schliefen oder in Trance waren, konnte sie die Körper tauschen. Sie schob alle Bedenken beiseite. Sie hoffte einfach, dass sie den Kampf um ihren Körper gewann.
Es war ein strahlend blauer Tag, als eine junge Frau aus der psychiatrischen Anstalt kam. Ihre Tritte waren unsicher. Sie schaute sich hilfesuchend um, als ihr ein ebenso junger Mann entgegen eilte. Als er bei ihr angekommen war, hielt er sie an beiden Schultern fest und schaute ihr tief in die Augen. Er fragte etwas und die junge Frau nickte bestätigend. Die Anspannung des jungen Manns fiel wie ein Mantel von ihm ab und er umarmte die junge Frau. Euphorisch wirbelte er seine Angebetete mehrfach durch die Luft bevor er sie leidenschaftlich küsste. Arm in Arm liefen sie die Stufen der Anstalt hinunter und liessen diese, mit all ihren Bewohnern hinter sich zurück. Auf das Gesicht der jungen Frau stahl sich ein triumphierendes Schmunzeln.
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