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  • AutorenbildSamarraLeFay

Die Anstalt - Teil 5

Aktualisiert: 24. Juli 2022


Jules träumte. Sie schwebte über ihrem Bett und spürte nichts. Keine Wärme. Keine Kälte. Keinen Luftzug. Keine Erdanziehungskraft. Sie war frei. Vielleicht war es doch kein Traum?

Sie schaute auf ihren schlafenden Körper hinunter. Unter seinem schweren Atem hob und senkte sich der Brustkorb.

Der Anblick fühlte sich seltsam fremd an. Sie war hier falsch. Warum bloss? Es war gar nicht ihr Körper! Es war Jennys Körper. Sie musste zurück in ihren Körper.

Furcht durchströmte sie. Was würde passierte, sollte sie ihren Körper nicht finden? Wäre sie dann für immer in diesem Zustand gefangen?

Trotz der Bedenken schwebte Jules durch das geschlossene Fenster hinaus. Sie stieg höher und immer höher.

Die Aussicht war atemberaubend. Sie sah die Lichter der Stadt unter ihr. Das Lichtermeer war endlos und zog sich in allen vier Himmelsrichtungen bis zum Horizont.

Von hier oben sah ein Gebäude aus wie das nächste. In welcher Richtung war ihr Zuhause?

Sie schwebte über die Stadt hinweg. Schnell fand sie Anhaltspunkte, an denen sie sich orientieren konnte.

Erneut kamen Bedenken in Jules auf. Konnten sich andere Menschen ebenfalls in diesen Zustand versetzen? Was würde passieren wenn sie einen anderen Reisenden begegnete? Oder ein Reisender den seelenlosen Körper fand? Das Bild eines Dämons, der sich Jennys Körpers bemächtigt, stieg in Jules auf.

In ihrer Wohnung brannte Licht. Jenny musste noch wach sein. Durch die zugezogenen Vorhänge hindurch konnte Jules erkennen, wie Jenny durch die Wohnung wanderte. Was sie wohl gerade machte?

Würde sie sie sehen können?

Lange wartete Jules schwebend in der Luft, bis Jenny die Lichter löschte. Dann erst schwebte sie durch das Küchenfenster in die Wohnung. Berge dreckigen Geschirrs türmten sich neben gammligen Essensresten in der Küche. Jules war froh, dass sie nichts riechen konnte. Das Wohnzimmer sah ähnlich unaufgeräumt aus. Jenny hatte ihr geliebtes Bücherregal ausgeräumt. Wo waren ihre Bücher? Eine Schwere ergriff Jules. Das war ihr zu Hause gewesen. Zuerst ihr Körper, dann David und jetzt ihre Wohnung. Jenny zerstörte alles.

Die Türe zu ihrem Schlafzimmer war offen. Jules wurde nervös. Obwohl sie körperlos war, glaubte sie ihren Herzschlag zu spüren. War da noch ein zweiter Herzschlag? Ein ruhiger, bekannter Herzschlag? Jules wurde von ihrem Körper förmlich angezogen. Ohne weiter darüber nachzudenken schwebte Jules in ihr Schlafzimmer, dort hin, wo Jenny sich erst vor wenigen Minuten hingelegt hatte.

Als Jules ins Schlafzimmer schwebte und sie ihren Körper auf dem Bett liegen sah, hielt sie geschockt inne. Das war ihr Körper! Und Jenny hatte ihn geklaut. Konnte sie einfach in ihren Körper schweben und ihren rechtmässigen Platz einnehmen?

Hilfesuchend schaute sie sich im Zimmer um. Jenny hatte neben ihrem Bett einen Altar hergerichtet. Neben Pentagrammen, Kerzen und einer Räucherschale, lagen dort eine tote Spinne und Mäuseschwänze. Daneben war eine Reihe einfacher Strohpuppen aufgestellt. An einige waren Haarbüschel und ein Namensetikett angepinnt. Jules erkannte die Namen von David und ihrer Mutter. Die anderen Namen konnte sie niemanden zu ordnen.



Die Anziehungskraft zu ihrem Körper hatte aufgehört.

Verwundert huschte Jules Blick zu ihrem Körper. Mit Schrecken sah sieh, dass die Augen geöffnet waren. Durch die Augen starrte sie Jenny Wut entbrannt an.

In dem Moment als sich ihre Blicke kreuzten, zog es Jules aus ihrem Zimmer, durch die Stadt, zurück in Jennys Körper.

Schweissgebadet sass sie aufrecht in ihrem Bett.

„Ich habe es geschafft!“ Es war drei Uhr Morgens, aber sie musste einfach David schreiben, auch wenn er wahrscheinlich am schlafen war und frühestens in ein paar Stunden antworten würde.

Als Jules aus dem Schlaf geschreckt war, hatte sie in Panik die Schutzkräuter, welche ihr David zugeschickt hatte, angezündet. David hatte die Kräuter vorsorglich mit Tee beschriftet. Die Kräuter sollten vor bösen Geistern und herumschwirrenden Seelen schützen. Falls Jenny ihr folgte… Jules hoffte einfach, dass die Kräuter funktionierten.

Ihr Puls ging inzwischen wieder normal und sie hatte sich umgezogen. Die verschwitzten Kleider hatte sie in den Kleidersack gestopft.

Ein Piepen kündigte die einkommende Nachricht an. Schnell schaltete sie das Handy auf lautlos. „Was?“, fragte David.

„Du bist wach!“ Ohne eine Antwort abzuwarten tippte sie weiter: „Ich habe eine Spaziergang im Traum gemacht.“ Jules wusste nicht ob jemand von der Anstalt ihre Nachrichten las. Eigentlich wäre dies ohne konkreten Anlass nicht erlaubt. Aber Jules wurde hier drinnen paranoid. Dass war auch der Grund warum sie mit David einige Codewörter vereinbart hatte. Spaziergang im Traum stand für Astralreise.

„Hast du den Vogel gesehen?“, fragte David nach. Vogel stand dabei für Jenny.

„Ja! Aber der Vogel hat mich auch gesehen. Das ging mir durch Mark und Bein. Dann bin ich aufgewacht.“

„Wie gehts es dir jetzt?“

„Gut. Telefonieren wir morgen?“

„Ja, pass auf dich auf!“

Jules spürte ein Kribbeln im Nacken. Erneut bekam sie es mit der Angst zu tun. Was, wenn Jenny trotz der Kräuter hier war und sie beobachtete? Würden die Kräuter sie schützen? Sie hoffte es. Zu Sicherheit warf sie weitere Kräuter in die Räucherschale.

Sie legte sich wieder hin, ohne zu glauben nochmals einschlafen zu können. Daher nahm sie ein Buch in die Hand. Vielleicht stand irgendwo ein Hinweis wie sie Jenny aus ihrem Körper verjagen konnte.

Ein Klingeln weckte Jules. Wider Erwarten war sie doch eingeschlafen. Mit zugeschwollenen Augen schaute sie auf das Display. David! Dann fiel ihr Blick auf die Uhrzeit. Gerade rechtzeitig. Sie musste das Zimmer lüften, damit der Kräuterduft verschwand. Sie schnappte sich das Handy und während sie zum Fenster lief nahm sie den Anruf entgegen.

„Hy Jules.“

„Hy David.“

„Konntest du nochmals schlafen?“, erkundigte sich David mit besorgter Stimme.

„Erstaunlicherweise ja!“

„Gut.“

„Also, erzähl mir, was passiert ist.“

„Ich dachte zuerst, dass ich träume. Ich sah meinen Körper. Dann erst dämmerte es mir, dass es vielleicht mehr als ein nur Traum sein könnte. Ich bin zu meiner Wohnung geflogen. Jenny hat aus meiner Wohnung das reinste Chaos gemacht. Die Küche sieht aus wie bei einem Messie. Sie hat all meine Bücher weggeschmissen. Im Schlafzimmer hat sie einen Altar mit kleinen Puppen eingerichtet. Ich glaube, es müssten Voodoopuppen sein. Eine ist mit deinem Namen beschriftet.“ Ein kalter Schauer lief Jules den Rücken hinunter bevor sie weiter sprach: „Und dann hat sie mich gesehen. Du hättest ihre Augen sehen sollen. Das waren die eines Teufels. Ich glaube vor Schreck hat es mich zurück in diesen Körper geworfen.“

„Bist du sicher, dass es nicht nur Zufall war, dass sich eure Blicke gekreuzt haben und du dann aus Schreck aufgewacht bist?“

„Ja!“

„Glaubst du, sie ist dir gefolgt?“

„Ich weiss es nicht. Ich habe die Kräuter benutzt die du mir geschickt hast. Aber ich fühlte mich trotzdem beobachtet.“

„Vielleicht war es deine Angst?“

„Was, wenn es mehr war?“

„Dann weiss sie, dass ich es weiss“, schlussfolgerte David trocken.

„Genau!“

Jules pausierte lange. „David?“, fragte sie sachte.

„Ja?“

„Soll ich… Ich habe Angst. Ich habe grosse Angst! Was ist, wenn Jenny dir etwas antut? Ich würde das nicht überleben. Sollen wir aufhören? Ich könnte vielleicht auch so aus der Anstalt kommen. Vielleicht wäre das der sicherere Weg.“

„Auf keinen Fall!“, antwortete David aufgebraust.

Jules atmete erleichtert aus. Sie hätte dieses Leben akzeptiert um David zu schützen, aber es wäre kein leichtes Opfer gewesen. Sie war froh, dass David sie unterstützte: „Und, was machen wir jetzt?“

„Wir finden einen Weg damit du deinen Körper zurückerhältst. Ganz einfach.“




Jules wartete vor Doktor Schmidts Büro. Es war ungewöhnlich, dass sie hierher gerufen wurde und sie dafür ihren Küchendienst sausen lassen konnte. Etwas musste vorgefallen sein.

Doktor Schmidt öffnete die Tür und winkte Jules zu sich hinein. „Jenny, komm bitte rein.“

Sie hatte sie Jenny genannt. Das war kein gutes Zeichen. Was war los?

Im Büro stand mit dem Rücken zu Tür eine junge Frau. Mit dem ersten Blick war Jules klar wer diese Person war. Oder, besser gesagt, vorgab zu sein.

Jenny! Ekel durchfuhr Jules.

„Setz dich, Jenny.“ Doktor Schmidts Blick war sehr ernst.

Jules tat, wie ihr geheissen wurde. Jenny grinste sie höhnisch an.

„Weisst du wer das ist?“

Jules nickte und hauchte: „Jules d’Arndo“

Doktor Schmidt nickte bestätigend. „Frau d’Arndo ist hier um sich zu beschweren. Sie wollte zuerst mit uns sprechen bevor sie zur Polizei geht. Sie sagt, dass du sie belästigst, Lügengeschichten erzählst und auch ihre Freunde und Familie kontaktierst.

Jules schwieg. Wut frass sich durch ihre Eingeweide. Wie konnte sie es wagen.

„Diese kleine Schl…“, Jenny brach im letzten Moment ab, schaute entschuldigend zu Doktor Schmidt und fuhr dann in einem ruhigeren Ton fort: „Sie müssen verstehen. Das Ganze hat mir wirklich Angst gemacht. Ich weiss gar nicht was ich ihr angetan habe um das zu verdienen. Oder wie sie an alle Nummern gekommen ist. Wenn sich das nicht ändert, bin ich gezwungen, zur Polizei zu gehen.“

Doktor Schmidt nickte: „Da haben Sie natürlich recht.“

Jules räusperte sich: „Darf ich etwas dazu sagen?“

Doktor Schmidt hob eine Augenbraue und nickte. Jenny presste die Lippen zu schmalen Streifen zusammen.

Jules hat eine Ahnung, was Jenny vor hatte. Sie wollte, dass man ihr den Kontakt zur Aussenwelt verwehrte. Sie wollte den Kontakt zu David unterbrechen. Jenny war wirklich böse. Aber Jules hatte eine Idee: „Ich möchte mich bei Frau d’Arndo entschuldigen. Ich war nach meinem psychotischen Schub sehr verwirrt. Ich weiss jetzt, dass das falsch war und es wird nicht wieder vorkommen.“

Doktor Schmidt hob die zweite Augenbraue, aber lächelte sie freundlich an: „Danke, Jenny. Ich weiss deine Einsicht sehr zu schätzen, trotzdem werden wir die Situation in Ruhe aufarbeiten müssen. Das ist dir sicherlich bewusst oder?“

Jules nickte und senkte bewusst reumütig den Kopf.

Doktor Schmidt stand auf. Sie wollte Jenny zum Abschied die Hand reichen. Diese machte aber keine Anstalten zu gehen.

Unbeirrt fuhr Doktor Schmidt fort: „Frau d’Arndo, bitte melden Sie sich umgehend, sollten sich weitere Vorkommnisse ereignen. Jedoch muss ich Sie bitten, dass nächste mal die Orignialunterlagen mitzubringen und nicht ein Bild auf dem Handy.“

Jenny wirkte entsetzt. Jules lächelte zu frieden in sich hinein. Dieser Besuch war gar nicht so verlaufen, wie Jenny es sich wohl erhofft hatte.

„Wie, das wars? Sie müssen ihr das Handy wegnehmen und den Zugang zum Internet Rechte entziehen. Wenn ich sowas ge…“

Doktor Schmidt unterbrach sie gerade rechtzeitig: „Frau d’Arndo ich verstehe, dass Sie aufgebracht sind. Aber bitte überlassen Sie die Betreuung der Klienten unserem Ermessen. Jenny hat eine sehr gute Sozialprognose und sie hat ihren Fehler eingesehen. Falls Jenny sich wieder bei Ihnen meldet, werden wir natürlich weitere Massnahmen in Betracht ziehen.“

Wutentbrannt stürmte Jenny aus dem Büro und schlug die Tür hinter sich zu.

Jules und Doktor Schmidt starrten sich lange an ehe die Letztere das Schweigen brach.


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