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  • AutorenbildSamarraLeFay

Die Anstalt - Teil 3

Aktualisiert: 24. Juli 2022


Jules hatte lange über Bettis Worte nachgedacht. Sie hatte Betti seit dem Vorfall im Gemeinschaftsraum vor drei Tagen nicht mehr gesprochen. Darüber war Jules erleichtert, da diese Worte sie sehr verunsichert hatten. Hatte Betti dies beabsichtigt? Ihr Blick war bösartig und sie schien sich an Jules Unbehagen und Unsicherheit zu laben.

Falls Jules Doktor Schmidt erzählen würde, dass möglicherweise Jenny dank eines Rituals mit ihr den Körper getauscht hatte, dann würde Doktor Schmidt Jules endgültig für verrückt erklären und sie noch sehr lange hier drin bleiben müssen. Sie würde glauben, dass Jules einen neuen psychotischen Schub hätte. Jules musste Doktor Schmidt dazu bringen, die Situation selber zu hinterfragen, oder noch besser, selber auf die Idee eines unmöglichen Körpertauschs zu kommen. Oder sie musste so viele Indizien zusammentragen, dass diese nicht zu widerlegen sind. Aber wie? Gibt es überhaupt genügend Indizien, dass ein rational denkender Mensch sich von so etwas Unmöglichem überzeugen liesse. Aber für Jules war es das einzige, was im entferntesten Sinn machte. Sie war nicht Jenny und war auch nie Jenny gewesen. Sie hatte ein Leben und unzählige Erinnerungen daran, an ihre Kindheit, ihre Familie und an David. Der Gedanke an David schmerzte sie sehr, sie hatte ihn seit Wochen nicht mehr gesehen oder gehört und sie würde noch sehr lange auf ihn verzichten müssen. Sie hoffte nur, wenn dieser Spuk ein Ende hatte, würde er noch für sie da sein.

In zehn Minuten würde ihre nächste Therapiesitzung beginnen. Jules war unsicher, was sie sagen sollte und rutschte nervös im Stuhl hin und her. Im Warteraum, vor Doktor Schmidts Büro, gab es drei unbequeme Stühle. Jules war überzeugt, dass Doktor Schmidt absichtlich diese Stühle aufgestellt hatte, damit ihre Patienten froh waren, wenn sie endlich zu ihr rein konnten. Es lagen einige Zeitschriften auf einem kleinen Tisch, aber alle waren schon einige Wochen alt.

Die Türe öffnete sich und Doktor Schmidt winkte sie hinein. Wie immer trug sie ihren strengen Dutt, eine makellos gebügelte weisse Bluse und dazu einen Businessrock. Doktor Schmidt war stets bemüht eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. Jules setzte sich wie gewöhnlich auf das grüne Sofa. Es war nicht besonders gross und bot Platz für 2 Personen, trotzdem fühlte sich Jules auf dem Sofa immer ein wenig verloren und verletzlicher als sonst. Bewusst widerstand sie dem Drang ein Sofakissen als Schutzschild vor ihren Bauch zu halten. Doktor Schmidt sass in einem Sessel schräg gegenüber von Jules. Zwischen ihnen war ein kleiner Tisch mit Schokoladenkeksen und ein dampfender Krug frischer Pfefferminztee. Bei einer der ersten Sitzungen hat Doktor Schmidt sie gefragt was sie gerne trinke. Seid dem fand Jules bei jeder Sitzung einen anderen wohlriechenden Tee vor. Bei dem Geruch von frischen Pfefferminztee entspannte sie sich. Doktor Schmidt goss ihr eine Tasse ein, ehe sie ihre eigene füllte.


„Also Jenny, wie geht es dir heute?“, fragte Doktor Schmidt wie immer als Erstes. Jules mochte Doktor Schmidt ganz gerne. Sie wusste nicht, warum Betti sie als Doktor Shit bezeichnet hatte. Jules kam Doktor Schmidt sehr professionell vor. Sie sprach gerne mit ihr, auch wenn sie immer auf der Hut sein musste, dass sie nichts sagte, was Doktor Schmidt als neuen psychotischen Schub interpretieren konnte. Ansonsten war Doktor Schmidt aufmerksam, zeigte Anteilnahme und Verständnis ohne dabei die Grenze zwischen Patient und Therapeutin zu überschreiten. Doktor Schmidt hatte ein Talent dafür eine unbefangene Atmosphäre zu schaffen.

Jules nickte und antwortete: „Mir geht es den Umständen entsprechend gut.“ Sie griff nach einem Keks und knabberte am Rand.

„Hast du etwas Bestimmtes, worüber die du sprechen willst?“, fragte Doktor Schmidt weiter.

Jules hatte auch mit dieser Frage gerechnet, da Doktor Schmidt diese bis jetzt immer als zweite gestellt hatte. Für gewöhnlich hatte Jules nichts worüber sie sprechen wollte, aber heute war dies anders: „Ja habe ich.“

Doktor Schmidt zog erstaunt die Augenbrauen hoch, aber nickte zufrieden: „Gerne. Über was möchtest du sprechen?“

„Ich möchte über Jenny sprechen.“

Doktor Schmidt nickte zögernd und sprach in einem sachten Ton: „Du bist Jenny, auch wenn du von dir als Jules denkst. Aber du musst dich nicht ändern. Ich konnte dein neues ich inzwischen ein wenig kennenlernen und sehe, wie viele destruktive Eigenschaften du durch deinen Wandel ablegen konntest. Wir haben dich bewusst weiter mit Jenny angesprochen, da wir dich in deiner Psychose nicht bestärken wollten und du nicht noch weiter abdriftest. Aber inzwischen glaube ich, dass es vielleicht besser wäre, wenn du mit Jules angesprochen werden würdest. Vielleicht konntest du als Jenny nicht aus deinen Mechanismen ausbrechen, die du nun als neuer Mensch, als Jules, kannst.“

Doktor Schmidt musterte Jules, die nach einem kurzen Innehalten, nickte: „Ich verstehe, denke ich.“

„Wie willst du in Zukunft angesprochen werden?“, fragte Doktor Schmidt direkt nach.

Ohne zu zögernd antwortete Jules: „Jules!“

Doktor Schmidt nickte: „Das habe ich mir gedacht. Ich werde alle Mitarbeitenden entsprechend informieren. Deine Mitpatienten werden in den Gruppensitzungen entsprechend informiert. Sei aber nachsichtig mit den Mitarbeitenden, Mitpatienten und ebenso mit mir. Wir kennen dich zum Teil seit Jahren als Jenny, und die Umstellung wird für uns nicht ganz leicht sein. Aber ich verspreche dir, dass wir uns bemühen.“

Jules fühlte sich, als ob ein schwerer Stein von ihrer Brust gefallen war. Sie war so erleichtert, dass man sie jetzt mit Jules ansprechen würde. „Danke!“, hauchte Jules.

„Nichts zu danken“, erwiderte Doktor Schmidt.

„Trotzdem würde ich gern über Jenny sprechen“, setzte Jules nach. „Ich möchte wissen, wer sie war.“ Jules atmete tief ein, der nächste Satz ging ihr schwer über die Lippen. „Ich bin sie. Ich möchte wissen, was sie interessiert hat. Wer sie war. Habe ich nicht das Recht zu wissen, wie meine Vergangenheit war?“

Zögernd antwortete Doktor Schmidt: „Doch, natürlich hast du das. Aber ich möchte zuvor sicherstellen, dass es dir bewusst ist, dass du nicht mehr zu Jenny werden musst.“

Jules lachte innerlich über diese Aussage. Sie würde bestimmt nicht zu Jenny werden. „Das ist mir bewusst“, beteuerte Jules.

„Was möchtest du wissen?“

„Was hat Jenny für Bücher gelesen? Oder Zeitschriften?“, fragte Jules interessiert.

„Ich kann mich daran nicht erinnern. Sie hat sich die Bücher von ihrem Taschengeld bestellt. Auf deinen Wunsch hin haben wir Jennys Sachen ausgeräumt, bevor du in ihr Zimmer eingezogen bist.“

Jules stellte erfreut fest, dass Doktor Schmidt von Jenny in der dritten Person redete. "Darf ich mir ebenfalls Sachen mit meinem Taschengeld kaufe?"

Doktor Schmidt nickte zur Bestätigung.

Jules biss sich auf die Lippe. Sie war sich unsicher ob es schlau war, die nächste Frage zu stellen, aber es war einfach zu verlockend: "Darf ich mir ein Handy kaufen?"

Doktor Schmidt kräuselte die Stirn: "Wenn ich mich richtig erinnere, hatte Jenny ein Handy, aber wir haben es nicht mehr gefunden. Ich werde dafür sorgen, dass du eines bekommst, aber es wird kein modernes sein."

Jules nickte dankbar. Kein modernes bedeutete wahrscheinlich kein Smartphone. Das wäre auch zu schön gewesen. „Ich habe im Gemeinschaftsraum zwei Computer gesehen. Darf ich die verwenden?“

„Natürlich.“

„Hat jeder einen eigenen Account?“

„Ja.“

„Bekomme ich Jennys Account, damit ich ihren Verlauf durchgehen kann?“

Doktor Schmidt fragte misstrauisch nach: „Was erhoffst du dir zu finden?“

Jules schalt sich innerlich. Sie war zu forsch und wollte zu schnell zu viel. „Ich kann mich an einige Blogs erinnern, die ich gerne gelesen hab. Ich bin neugierig, ob Jenny diese auch gerne las.“

„Ich werde sehen, was ich für dich machen kann. Die Kiste mit Jennys Sachen kann ich dir später bringen lassen“, sagte Doktor Schmidt.

„Danke. Aber wenn es nicht klappt, ist es auch nicht so schlimm“, versuchte Jules die Unterhaltung zu relativieren.

Der Rest der Therapiestunde verlief wie gewöhnlich. Doktor Schmidt fragte sie darüber, wie es mit den Mitpatienten und ihrer Tagesstruktur verläuft. Danach ging Jules zurück in ihr Zimmer.


Jules überlegte, ob sie in den Gemeinschaftsraum gehen sollte. Sie hatte bereits zwei Stunden auf die Kiste gewartet es war beinahe Zeit für das Abendessen. Plötzlich klopfte es an der Tür.

Jules öffnete die Tür und ein Betreuer stand mit einer grossen Umzugskiste vor ihr.

„Doktor Schmidt sagte, du sollst diese Kiste zurückbekommen“, mit diesem Worten, drückte der Betreuer Jules die Kiste in die Arme. Die Kiste war sehr schwer und Jules konnte diese nur mit Mühe und Not halten.

Ächzend, hievte Jules die Kiste auf ihren Tisch. Jules konnte es kaum erwarten in die Kiste zu schauen.

„Ich mache die Türe wieder zu“, informierte sie der Betreuter. Jules hatte ihn bereits vergessen.

„Ja, danke“, antwortete sie ihm verstreut.

Auf der Kiste lag ein neu verpacktes Handy und daneben eine SIM-Karte mit einem Zettel auf welcher stand: "Guthaben 20.-". Es erinnerte sie an ihr erstes Handy. Damals hatte sie unzählige Stunden damit verbracht, auf dem Handy Snake zu spielen. Jules erinnerte sich mit einem Lächeln an diese Zeiten. Sie packte das Handy aus und wollte es einschalten. Sie drückte lange auf den Startknopf, aber nichts tat. Daher schloss sie das Handy an die Steckdose an.

Etwas enttäuscht öffnete sie die Kiste. Zuoberst lagen die Poster. Darunter waren Kerzen, Räucherstäbchen, Bücher, CDs und ein CD-Player. Wer hörte heute noch CDs, wunderte sich Jules. Sie schaute sich die Bands an, aber sie sagte, ihr nichts. Die Logos zeigten Wälder, Frauen in wallenden altertümlichen Kleider, mit langen Haaren und mystische Zeichen. Jules schloss den CD-Player an und hörte in eine der CDs rein. Sanfte, beruhigende Musik erfüllte den Raum.

Jules griff nach einem Buch. Sherlock Holmes. Es war ein gebundenes dickes Buch mit losem Einband. Sie griff nach einem weiteren Buch und las den Titel: „Die gesammelten Werke der Brüder Grimm.“ Sie öffnete dieses Buch und ging das Inhaltsverzeichnis durch:

  • Vorwort

  • Einführung

  • Erfahrungen von Astralreisenden

  • Meditation als Vorbereitung

  • Erste eigene Astralreise

Das war definitiv kein Märchen der Brüder Grimm. Jules schaute in das Sherlock-Holmes-Buch rein. „Magie wirken.“ Andere Bücher handelten von Ritualen, luziden Träumen und weitere Bücher über Astralreisen, alle mit unverfänglichen Einbänden getarnt.



Jules wusste, was Jenny gemacht hatte. Aber wenn Jenny dies bewerkstelligt hatte, dann konnte sie es vielleicht rückgängig machen. Jules setzte sich gemütlich aufs Bett, das Kissen im Rücken und nahm ein Buch in die Hand. Gerade als Jules anfing zu lesen, gab das Handy einen hellen Ton von sich. Jules schaute das Handy an und stellte erfreut fest, dass es bereits fertig geladen war. Sie steckte die SIM-Karte ein, entsicherte diese und öffnete das Menü. Sie wählte David Nummer.

Es klingelte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Ungeduldig klopfte Jules auf die Bettdecke. Noch zweimal dann würde die Mailbox angehen. Viermal.

"Hallo? David am Apparat."

Jules stockte der Atem, als sie Davids Stimme hörte. Er hatte abgenommen! Sie war nicht verrückt. Es gab ihn wirklich. Ihr war nicht bewusste gewesen, wie sehr sie an sich gezweifelt hatte bis sie seine Stimme gehört hatte.

"Hallooooo?" Davids Stimmte klang lethargisch und dumpf.

Sie musste etwas sagen, sonst würde er wieder auflegen und die Nummer blockieren. "David, hörst du mich?"

"Mit wem spreche ich denn da?"

"David, ich bin es. Jules!"

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