Chaani sass am See der Oase, wo ihre Familie für die herannahende Nacht lagerte. Wehmütig betrachtete sie ihr Spiegelbild. Die harten Worte ihrer Zwillingsschwester Lana klangen in ihrem Hinterkopf nach: „Du klaust mir alles! Du klaust mir meine Eltern! Mein Aussehen und jetzt auch noch Lian?! Du bist nicht mal meine richtige Schwester! Du bist bloß eine widerliche kleine Zecke, die nicht mal ein eigenes Gesicht hat!“ Danach war Lana wutentbrannt davongerauscht.
Lanas Worte schnitten ihr tief ins Herz. Doch Chaani spürte instinktiv, dass sie recht hatte. Sie trug nichts zur Familie bei, außer sie durch ihre Anwesenheit einer großen Gefahr auszusetzen. Ihre Familie waren Menschen, großgewachsene braungebrannte Wüstenmenschen.
Und sie? Sie war nur ein Wechselbalg. Ihr eigenes Gesicht war eine weiße ausdruckslose Maske, mit dunklen Augenhöhlen und farblosen Augäpfeln. Ihre Rasse konnte die Gesichter und Formen von anderen annehmen. Das war gut so, denn Wechselbälger sind selten gern gesehen. Die Leute fürchteten sich vor dieser Gabe. Chaani verstand das, denn sie hatte ihrer Schwester oft genug Streiche gespielt, indem sie sich in befreundete Kinder verwandelt hatte. Kaum auszudenken, was ein Wechselbalg, der Böses im Schilde führte, mit dieser Fähigkeit anstellen könnte. Aus Angst war ihre Rasse verfolgt und beinahe ausgerottet worden. Die wenigen Überlebenden wurden von mächtigen Menschen als Sklaven gehalten und zu Spionen erzogen. Wenn jemand einen Wechselbalg versteckte, drohte eine grausame Strafe oder gar der Tod.
Durch ihre Anwesenheit brachte sie sich selber und ihre ganze Familie in Gefahr. Niemand, kein Freund, Verwandter oder Vertrauter durfte erfahren, was sie in Wirklichkeit war. Daher war es ihr verboten ihr Gesicht zu wechseln. Die Gefahr sich zu verraten war zu groß. Chaani hatte sich als Kind nicht immer daran gehalten, zu natürlich war für sie das Gesichtwechseln gewesen. Doch seit sie die Gefahr verstand, hatte sie nur noch Lanas Gesicht getragen.
Sie liebte ihre Eltern und ihre Schwester, ohne sie hätte sie wohl nie erfahren wie es war eine Familie zu haben.. Ihre Geburtsmutter hatte sie als Baby hier bei den Nomaden gelassen. Chaani hatte Glück gehabt, dass ihre Mutter Sarah kurz zuvor Lana zur Welt gebracht hatte. Ihre Eltern nahmen sie auf und legten sie in die gleiche Wiege wie Lana. Sobald sie neben Lana lag nahm sie, so haben es ihre Eltern ihr erzählt, die Gestalt von Lana an. Fortan gaben ihre Eltern sie und Lana als Zwillingsschwestern aus.
In letzter Zeit betrachtete Lana sie zunehmend als Konkurrentin anstatt als Schwester. Lana wollte immer die Schönste sein. Sie liebte es, umgarnt zu werden. Wenn ein junger Mann ihr den Hof machte, musste er ihr alles zu Füssen legen. Sie trug aufreizende bunte Kleidung und mit ihrem Charme konnte sie jeden um ihren Finger wickeln. Auch wenn Chaani ihr Aussehen kopierte, ihre Persönlichkeit konnte sie nicht kopieren. Lana war ein Phänomen.
Sie selber war anders. Sie trug unauffällige Kleidung und versuchte so wenig Aufmerksamkeit wie möglich, auf sich zu ziehen. Im Gegensatz zu Lanas dunkler offenen Mähne trug sie ihre Haare zu einem strengen Zopf gebunden. Sie wich fremden Blicken aus, um niemanden herauszufordern, und hatte es perfektioniert sich im Schatten zu verstecken.
Normalerweise funktionierte diese Taktik wunderbar. Aber Lanas neuester Schwarm, Lian, interessierte sich zu Lanas Missfallen mehr für sie. Sie hatte Lian gefragt was er von ihr wollte, da Lana doch viel hübscher sei.
Lian antwortete: „Du bist ungewöhnlich. Das macht dich reizvoll.“
Sie wollte nichts von ihm, schon gar nicht, wenn Lana sich für ihn interessierte. Dabei war er nicht Lanas Typ. Er hatte das unsymmetrische Gesicht, dass Chaani jemals gesehen hatte. Die Nase war schräg, das eine Auge auffällig größer als das andere und die Wange wurde durch eine große Narbe gezeichnet. Lian war höflich, zuvorkommend und gewitzt. Er hatte nichts mit den gutaussehenden jungen Männern gemein, für die sich Lana sonst interessierte. Insgeheim freute sich Chaani, dass Lana endlich lernte, über diese oberflächlichen Merkmale hinwegzusehen. Denn Lian war ein guter Mann und würde Lana guttun. Sie schätzte seine Freundschaft und die Gespräche, die damit einhergingen. Dazu kam, er war ein perfektes Gesicht für sie. Weggehen als eine Frau, die schön war wie Lana, birgt zusätzliche Gefahren. Aber als starker junger Mann würde sie sich um einiges sicherer fühlen.
Chaani nahm einen kleinen Stein und warf ihn ins Wasser. Sie beobachtete die Kreise, die er zog, bis sich das Wasser beruhigte. Nachdenklich betrachtete sie den Stein durch die klare Wasseroberfläche auf dem Grund. Den Stein wieder aus dem Wasser zu holen, würde mehr Wellen verursachen, als ihn hineinzuwerfen. Würde ihr Weggehen auch mehr Wellen in der Familie verursachen als ihre Ankunft?
Ihr Herz brach beim Gedanken daran wegzugehen, doch ihre Zeit war gekommen.
„Ist dieser Platz noch frei?“, brummte eine tiefe Stimme neben ihr. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie nicht gehört hatte, wie jemand zu ihr gekommen war.
Chaani schaute hoch in das liebevolle Gesicht ihres Vaters Nael. Er hatte einen wildgewachsenen Bart, dunkle Augen und so viele Lachfalten wie Sand in der Wüste. Sie wäre lieber alleine geblieben. Der Abschied fiel ihr sonst schon schwer genug. Ihr Vater würde sie bestimmt davon abhalten wollen. Aber wie hätte sie das verneinen sollen? Sie nickte zögernd.
Nael und Chaani beobachteten schweigend den Sonnenuntergang. Die Sonne ließ den wolkenfreien Himmel in warmes Rot und Orange erstrahlen.
„Du und Lana hatten Streit?“, fragte Nael mitfühlend.
Chaani nickte.
„Du weißt, dass sie es nicht so meint? Ihr tut es in zwischen sehr leid.“
„Sie hat recht.“ Chaani wischte sich einige bittere Tränen aus den Augen.
Nael legte väterlich einen Arm um Chaani. „Womit hat sie recht?“
„Ich nehme nur und gebe nichts zurück, sogar ihr Gesicht nehme ich ihr.“
Nael lächelte: „Manchmal ist es schwer Geschwister zu haben. Ihr seht vielleicht gleich aus, aber seid vollkommen unterschiedlich. Für Lana ist es manchmal auch schwer, weil du bei vielen Sachen viel geschickter bist als sie.“
Chaani schaute ihr Vater verwundert an. „Für Lana ist es schwer? Ich dachte sie macht sich nichts aus Handwerksarbeit?“
„Was soll sie auch anderes sagen? Ich übernehmt beide verschiedene Aufgaben in der Familie und das ist gut so. Ich würde keine von euch beiden missen wollen.“
Chaani schwieg. Sie hatte mit ihrem Vater diese Art von Gesprächen schon öfters geführt. Doch diesesmal würde es anders ausgehen. Sie stand auf und überblickte den ganzen See. Sie schaute zurück zu den Zelten. Sie sammelte ihren letzten Mut zusammen. Sie wollte gehen. Alleine und ohne Abschied. Doch sie konnte ihren Vater nicht belügen. Sie konnte nicht mit ihm zurückkommen und tun als sei alles in Ordnung.
„Du wirst weggehen?“
Er wusste es? „Wie...?“
„Ich bin dein Vater. Das Oberhaupt dieser Familie. Es ist meine Aufgabe solche Dinge zu wissen.“
Chaani nickte.
„Verabschiede dich wenigstens von Mama und Lana.“
Chaani schüttelte den Kopf. „Mama wird weinen und mich überzeugen nicht zu gehen. Und Lana?“ Chaani seufzte tief, bevor sie fortfuhr: „Ich will nicht sehen wie sie sich freut, dass ich weggehe.“
„Du tust deiner Schwester Unrecht.“ Ihr Vater stand ebenfalls auf und schaute sie mit traurigen Augen an. „Sie wird sich die Schuld geben, und sich nicht verzeihen können.“
„Papa hat recht.“
Erstaunt drehten sich Chaani und Nael um. Hinter ihnen standen Lana und ihre Mutter Sarah.
Chaani wandte schnell ihr Gesicht ab. Sie schämte sich dafür, dass sie ohne einen Abschied gehen wollte. Wie undankbar sie doch war.
Lana machte zaghaft einen Schritt auf sie zu: „Es tut mir leid, was ich vorhin zu dir gesagt habe.“ Lana suchte Chaanis Blick.
Chaani nickte: „Danke, ich bin dir nicht böse. Du hast recht. Ich gehöre nicht hier her.“
Sarah umarmte ihre Tochter und flüsterte: „Doch, genau das tust du.“
Chaani schwieg. Was sollte sie auch sagen? Ein Teil von ihr wollte bleiben. Sie wollte weiter dieses behütete Leben leben. Aber neben dem, was Lana sagte, war ihr bewusst geworden, in welcher Gefahr ihre Familie ihretwegen schwebte.
„Mama hat recht, du gehörst zu uns.“ Lana schaute sie schuldbewusst an.
Chaani brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Mit ernstem Blick schaute sie der Reihe nach ihre Familienmitglieder an und verkündete: „Ich muss gehen. Nicht wegen dem Streit. Ich muss hier weg um euch zu schützen und jetzt ist der denkbar günstigste Moment.“
„Was hast du vor?“, fragte ihr Vater sie.
Chaani fragte sich, was ihn zum Umdenken gebracht hatte. Früher hätte er sie dazu überredet zu bleiben. Wahrscheinlich wussten ihr Vater und der Rest ihrer Familie, wie recht sie hatte. Ihr Abschied war schon längst überfällig.
„Ich kann Nadim begleiten und ihn auf der Reise unterstützen. Im Gegenzug hat er versprochen, dass er mich unterrichten würde .“ Nadim war ein alter Magier. Früher war er mächtig und in der ganze Wüste berühmt gewesen. Heute wurde er von vielen nur als tatteriger Greis wahrgenommen. Ein Bild das Nadim bewusst pflegte. Einmal hatte er Chaani geraten: „Die Leute sollen dich ruhig unterschätzen, dann bist du im Vorteil.“ Obwohl Chaani und ihre Familie ihm nie gesagt hatten, was sie in Wirklichkeit war, hatte er es instinktiv zu verstanden.
Neal nickte zufrieden, er schien beruhigt zu sein, dass sie den Magier begleiten würde und nicht alleine loszog. Sarah drückte der erstaunten Chaani einen Beutel in die Arme.
Lana fragte neugierig: „Welches Gesicht wirst du tragen?“
Chaani lächelte verlegen und antwortete: „Lians.“ Unwillkürlich wurde ihr Gesicht kantiger. Ihr eines Auge größer, das andere kleiner. Die Nase kippte zur Seite und eine Narbe bildete sich auf der Wange. Dunkle Haare wuchsen in ihrem im Gesicht. Ihre Schulter und Brust wurden breiter und sie wuchs fast einen halben Kopf.
„Hast du deshalb soviel Zeit mit Lian verbracht?“
Chaani zuckte mit der Schulter: „Nein, er war ein Freund“, nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: „nur ein Freund.“
Lana schaute sie schuldbewusst an.
Während Chaani den Beutel ihrer Mutter öffnete, murmelte sie zu Lana: „Sand drüber, du konntest es nicht wissen.“
Im Beutel fand sie einige Leckereien und Andenken aus ihrer Kindheit. Darunter eine kleine Puppe, eine Decke und eine von Lanas Zeichnungen, die ihre Familie darstellte. Nun war es an Chaani schuldbewusst auszusehen. „Wie konntet ihr es wissen?“
Ihr Vater trat zu ihr und räusperte sich. Zu Chaanis Erstaunen hatte er Tränen in den Augen. Er griff an seine Hüfte, löste seinen schlichten Saif vom Gurt ab und überreichte ihr den Säbel: „Möge die Klinge für dich singen.“
Chaani hatte einen Kloß im Hals. Sie brauchte alle Kraft, um nicht zu weinen und ihr Vorhaben abzubrechen. Sie liebte ihre Familie und wünschte, sie könnte bleiben.
Ihr Vater zog sie sich an sich und flüsterte: „Egal welches Gesicht du trägst, wir werden dich immer als eine von uns erkennen.“
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